Das empfinde ich so und die anderen, die im Mai mit nach Israel gereist sind, ebenfalls. Und manchmal passiert es, dass man am Ziel von der eigenen Heimat eingeholt wird.
Wer die Gedenkstätte „Yad Vashem“ besucht, entdeckt meist auch das „Tal der Gemeinden“. Dort sind hohe Felssteinquader, durch die man wie in einem Irrgarten läuft. Auf 107 Wänden stehen die Namen von über 5.000 jüdischen Gemeinden, die im Holocaust zerstört wurden.
In die Zeit dieses Gemeindebriefs fällt die Nacht vom 9. auf den 10. November – die
„Kristallnacht“. Sie war das öffentliche Fanal für das, was folgen sollte: der Völkermord am europäischen Judentum.
In Siegen, meiner Heimatstadt, blieb die Synagoge zunächst verschont. Angeblich war das Benzin nicht rechtzeitig da. So kam es, dass am helllichten Mittag des 10. November 1938 SS-Männer mit Äxten die heilige Einrichtung zertrümmerten, bevor sie das Gotteshaus niederbrannten. Ein 14-jähriger Junge konnte aus dem Schutz der Synagoge ein Stück der heiligen Schriftrollen bergen und nach Hause schmuggeln. Dort klebte er es an die Rückwand seines Kleiderschrankes und schrieb daneben: „Das dürfen wir nie vergessen!“.
Der NDR berichtete im Juni 2022: „In Niedersachsen haben im vergangenen Jahr
antisemitische Vorfälle deutlich zugenommen“. Und in einer Zeitung las ich: „Nach
verschiedenen Studien ist etwa jeder fünfte Deutsche latent antisemitisch – und
längst nicht nur Ältere, auch die ‚Generation Facebook‘. Auf vielen Schulhöfen ge
hört das Schimpfwort ‚Du Jude‘ heute zum Allgemeingut.“ – Gründe, wachsam zu
sein, gibt es genug.
„Kristallnacht“ – eine der finstersten Nächte in der Geschichte meines Volkes. Meines Volkes? Auch meine Geschichte? Wo ich, der ich 1964 geboren bin, doch die
sogenannte Gnade der späten Geburt für mich in Anspruch nehmen könnte? Ja,
auch meine Geschichte. Nicht meine Schuld, das nicht – aber die Geschichte meines Volkes und der muss ich mich stellen.
Ihr Pfarrer Christoph Felten