Angedacht

So etwas habe ich noch nie erlebt … diesen Satz habe ich ab März oft gehört und persönlich so empfunden. Was man sich im Februar über China im Fernsehen angesehen hatte, war plötzlich vor der eigenen Haustür angekommen. Schule und Bundesliga fiel aus. Einkaufen fühlte sich anders an. Unsicherheit machte sich breit. „Wir bleiben Zuhause.“

So etwas habe ich noch nie erlebt … dass in Schlagzeilen überwiegend von „Pandemie“, „Impfstoff“ und „Quarantäne“ die Rede war – als ob es keine Flüchtlinge mehr gäbe und keinen Krieg und keinen Raubbau an der Natur.

So etwas habe ich noch nie erlebt … dass am Haus der Kulturen in Berlin ein Banner hing, dessen Foto (siehe Titelseite!) in zahlreichen Zeitungen erschienen ist, weil die Aufschrift wohl den Nerv der Gesellschaft getroffen hat: „Haltet zusammen — mit ein bisschen Abstand“.

So etwas habe ich noch nie erlebt … dass Menschen in Europa auf Balkonen stehen, um mit Applaus oder Musik ihre Wertschätzung des Pflegepersonals und der Ärzteschaft zu zeigen; oder dass Kassiererinnen Blumen oder häufig ein „Dankeschön“ geschenkt bekommen – in den Jahren vor Covid-19, als der Stress des Alltags das Leben bestimmte, da war für all so etwas kaum Zeit. Und es ist zu befürchten, dass dies bei einer Normalisierung der Situation wieder so sein wird.

So etwas habe ich noch nie erlebt … dass ich eine Israelreise mit 35 Teilnehmenden schweren Herzens absagen musste – und mich dann dieser eine Satz, den ich am 24. März in einem Gebet las, nachdenklich gemacht und getröstet hat: „Mögen die, die Reisen absagen müssen, sich an die erinnern, die keinen sicheren Zufluchtsort haben.“

So etwas habe ich noch nie erlebt … dass ich von Bekannten und Freunden per E-Mail oder WhatsApp Nachrichten bekam, die helfen sollten, geduldig zu bleiben, und die zum Ausdruck brachten, wie gut versorgt wir selbst in diesem Ausnahmezustand hier noch sind …

So etwas habe ich noch nie erlebt … und deshalb schreibe ich hier davon. Eigentlich sollte es auf dieser Seite im Sommer-Gemeindebrief um Urlaub gehen, aber irgendwie dachte ich: Das passt nicht. – Mögen wir dann, wenn von Corona keiner mehr spricht, auch noch manchmal daran denken, was wir aus dieser schweren Krisenzeit – mit all ihrem Leid – Positives mitnehmen. Etwas, das wir noch nie erlebt oder worüber wir gestaunt haben oder wofür wir dankbar sein dürfen …

Ihr Pfarrer Christoph Felten